Dieser Brief geht heute auf die Post:
Herrn Bundesrat
Alain Berset
Generalsekretariat GS-EDI
Inselgasse 1
3003 Bern
30. November 2021
Sehr geehrter Herr Berset
die heutige Pressekonferenz zu den Vorschlägen des Bundesrates für weitere Verschärfungen der Covid-Massnahmen bewegt mich, Ihnen zu schreiben.
Ich habe grosses Verständnis für die enorm schwierige Situation, der Sie seit bald 2 Jahren ausgesetzt sind. Ich kann mir vorstellen, dass es von allen Seiten Kommentare und Kritik hagelt. Es ist immer einfacher, zu kritisieren, als selber Vorschläge zu machen. So frage ich mich immer wieder: „Was würde ich wohl tun, wenn ich an Ihrer Stelle wäre?“
Im Februar 2021 bin ich an Covid-19 erkrankt. Ich hatte 3 Wochen Fieber und grosse Schwäche. Da die weiteren Entwicklungen damals nicht absehbar waren, machte ich keinen PCR-Test. Ich fühlte mich zu krank, um ins Spital zum Testen zu fahren, und hatte Bedenken, den Taxifahrer anzustecken. Somit bin ich nie in den Genuss eines Genesen-Zertifikats gekommen. Ein Antikörpertest ergab, dass ich die vom BAG festgelegte Mindestanzahl nicht erreiche.
Eine zusätzliche Impfung kommt für mich nicht in Frage. Dies ist zunächst eine rein intuitive Sache. Es würde gegen mein innerstes Körpergefühl und -gewissen gehen, dies zu tun. Im Hinblick auf Medizin bin ich Zeit meines Lebens alternativ unterwegs gewesen: ich stärke mein Immunsystem durch einen gesunden Lebensstil, und wenn ich – wie diesen Februar – einmal krank werde, dann gehe ich durch die Krankheit durch, pflege mich mit natürlichen Mitteln, gesunder Ernährung und so viel Schlaf wie möglich. Damit habe ich stets gute Erfahrungen gemacht, so auch während meiner Covid-Erkrankung.
Seit dem 13. September bedeutet dies für mich: konstante Tests, damit ich arbeiten kann (ich bin Musiker), sowie auf der psychischen Ebene starke Stresssymptome, die durch drohende weitere Massnahmen, Kesseltreibereien in den Medien und den Umgang mit verständnislosen KollegInnen erzeugt werden.
Durch meinen Lebensstil verhalte ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verantwortungsvoll. Ich reise zur Zeit nicht und besuche keine Grossveranstaltungen, ich führe ein bescheidenes und wenig riskantes Leben, trage die Maske, wenn es notwendig ist. Als ich Covid hatte, habe ich mich sogleich zurückgezogen und niemanden angesteckt.
Unter anderem arbeite ich in einer grossen Ostschweizer Kirchgemeinde. Dort habe ich Kontakt zu hunderten von Gemeindemitgliedern. Im Moment erfahre ich von Dutzenden von Impfdurchbrüchen. Die Geschichte dahinter ist immer ähnlich: die Leute sind doppelt geimpft, wähnen sich in Sicherheit, treffen sich im grossen Kreis, fliegen munter in die Ferien – und stecken sich mit dem Virus an. Die Impfdurchbrüche machen diese Problematik sichtbar; die Dunkelziffer der unentdeckten bzw. ungetesteten Impfdurchbrüche dürfte dabei sehr hoch sein.
Wenn ich den Lebensstil eines doppelt geimpften Menschen, der in die Ferien fliegt, keine Vorsicht mehr walten lässt und maskenfrei an Veranstaltungen teilnimmt, mit meinem Lebensstil vergleiche, so ist mir je länger je weniger verständlich, warum ich eine grössere Gefahr für die Gesellschaft darstellen soll. Ganz im Gegenteil. Der Sinn der 3G-Regelung bzw. des Zertifikates entgeht mir je länger je mehr.
Nun höre ich an der heutigen Pressekonferenz, dass in Bezug auf die Testpraxis weitere massgebliche Verschärfungen vorgeschlagen werden. Die Antigen-Tests sollen nur noch 24 Stunden, die PCR-Tests nur noch 48 Stunden lang gültig sein. Bei letzteren dauert die Auswertung im Labor zwischen 24 und 36 Stunden, wodurch sich die faktische Gültigkeit auf 24 bis 12 Stunden reduziert. Wenn es für meine Lebensrealität keine so traurige Realität wäre, so würde ich über diese Situationskomik lachen müssen.
Konkret wird dies für mich heissen, dass der Stress, die Tests in meinen Stundenplan hineinzuzwängen, nochmals signifikant grösser wird. Auch mein Einkommen wird durch die Testkosten weiter schwinden. Einen Gewinn oder medizinischen Sinn sehe ich darin nicht – und vor allem sehe ich keine Verhältnismässigkeit im Vergleich mit geimpften Menschen.
Wie Sie sicher merken, bin ich kein Extremist. Gewisse Statements aus dem Impfkritiker-Lager im Vorfeld der Abstimmung über das Covid-Gesetz könnte ich niemals unterschreiben. Aber gleichzeitig habe ich meine innere Überzeugung, die ich nicht ändern kann und will. Eine mir gegenüber zuweilen geäusserte Empfehlung, halt meine Überzeugungen hintanzustellen und mich impfen zu lassen, um all diese Probleme nicht mehr zu haben, kommt mir vor, wie wenn jemand einem Christen in Afghanistan empfehlen würde, halt zum Islam zu konvertieren, damit er die Schikanen nicht mehr erleben muss.
Für mich sind es im Moment Schikanen. Schikanen, die mich körperlich und psychisch angreifen. Ich glaube nicht, dass die Pandemie dadurch in irgendeiner Weise positiv beeinflusst wird.
Oft höre ich die Berichte aus dem Gesundheitswesen. Covid-Patienten sind aufwändig für die Pflege, und das Personal nimmt anscheinend ab. Ich sehe dieses Problem. Ich glaube aber nicht, dass dies durch Testverschärfungen behoben wird.
Die Wochen vor der Abstimmung über das Covid-Gesetz haben einen tiefen Graben in unsere Bevölkerung gerissen. Von den schätzungsweise 2 Millionen Ungeimpften gibt es einige, die militant vorgehen und haarsträubende Theorien verbreiten. Aber der weitaus grösste Teil (und damit meine ich 99,9%) der 2 Millionen Ungeimpften sind Menschen wie ich: sie haben ihre Intuition, sie nehmen ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahr, und sie wollen ihrem – wenn Sie mir gestatten, dieses Wort zu verwenden – Glauben treu bleiben dürfen.
In diesem Sinne bitte ich Sie von Herzen: Verzichten Sie auf Verschärfungen, die nicht nötig sind und die ausser Schikanen nichts bringen. Schaffen Sie ein Bewusstsein dafür, dass sich unser Lebensstil ändern muss: Flugreisen und Grossveranstaltungen sind zu hinterfragen. Ersteres sagte uns die Klima-Jugend schon lange vor Covid. Und suchen Sie das Gespräch mit verantwortungsvollen ungeimpften Schweizerinnen und Schweizern wie mir, die unter diesen Massnahmen irgendwann zusammenbrechen werden, weil einfach der Stress und die Ungewissheit zu gross werden.
Zum Schluss möchte ich auf meinen eingangs geäusserten Respekt zurückkommen und bestärken, dass mir bewusst ist, dass die Situation nicht leicht ist. Aber aus der Sicht eines direkt betroffenen, un-extremen und verantwortungsvollen Bürgers nimmt es jetzt einfach ein Ausmass an, das die Grenze des Erträglichen überschreitet.
Mit herzlichen Grüssen
XY 😀