Einst lebte ein Mensch auf Erden. Ob es eine Frau oder ein Mann war, weiss ich gar nicht so genau; vielleicht war es auch etwas zwischen den beiden Geschlechtern. Da aber das Wort Mensch in unserer Sprache mit „der“ bezeichnet wird, mache ich es hier auch so.
Dieser Mensch lebte also mit vielen anderen Menschen in einem Dorf zusammen. Das Leben im Dorf war durch lange Zeit hindurch geordnet worden. Jede*r hatte seine Aufgabe, und so war ein Ganzes entstanden, das allen ermöglichte, so zu leben, wie sie es gerne taten.
Eines Tages kamen neue Menschen in das Dorf. Sie brachten viele Geschenke mit; Geschenke, die die Menschen im Dorf bislang nicht gekannt hatten. Und sie erzählten den Menschen im Dorf, dass ihr Leben an ein Ende kommen würde. Die Menschen im Dorf wussten natürlich, dass jede*r von ihnen eines Tages sterben musste, aber was sie da hörten, war etwas anderes. Die neuen Menschen sprachen nämlich davon, wie schrecklich das Ende sei, das ihnen bevorstände. Und sie erzählten davon, dass dieses Ende nun seine Vorboten ins Land geschickt hätte.
Die Menschen im Dorf wussten, dass es Krankheiten gab. Immer wieder war es vorgekommen, dass Menschen nicht einfach natürlich ihren Atem ausgehaucht hatten, sondern darniederlagen und Schmerzen hatten, bevor sie die Schwelle zur Anderswelt überschreiten konnten. Sie wussten auch, dass Menschen in jüngeren Jahren krank wurden. Es kam immer wieder vor. Jedes Mal brachten sie solchen Menschen Liebe und Fürsorge entgegen und unterstützten sie im Weg durch die Zeit der Krankheit. Sie wussten, dass diese Menschen gestärkt, gereift und mit grösserer Weisheit ausgestattet in den Zustand der Gesundheit zurückkehrten.
Nun aber erzählten die neuen Menschen von einem Ende mit Schrecken. Da bekamen die Menschen, die im Dorf wohnten, Angst. Die Angst wurde grösser durch Bilder von kranken Menschen, die ihnen die neuen Menschen, die ins Dorf gekommen waren, zeigten. Bald schien es, als sässe die Angst allen im Nacken.
Der eine Mensch, von dem ich zu Beginn erzählte, beobachtete, was im Dorf geschah. Er wurde Zeuge davon, dass kurze Zeit später einige Menschen im Dorf in der Tat starke Schmerzen verspürten. Einer dieser Menschen, den er gut gekannt hatte, überschritt nach einiger Zeit die Schwelle. Er beobachtete, wie die Liebe und Fürsorge, mit der die Menschen im Dorf ihre Kranken stets gepflegt hatten, eine Art Riss bekamen. Es war wie eine Scheu, die die Menschen ergriff. Es wollte ihm scheinen, als hätte jede*r plötzlich Angst, selber zu erkranken.
Die neuen Menschen, die ins Dorf gekommen waren, wurden nun von den Menschen, die seit Jahrhunderten im Dorf gelebt hatten, als eine Art Propheten angesehen. Denn sie waren gekommen und hatten das schreckliche Ende angekündigt. So folgten sie ihnen auch, als die neuen Menschen anfingen, die Menschen im Dorf zu lehren, wie sie den kranken Menschen begegnen sollten.
Menschen, die erkrankten, durften von nun an nicht mehr die Liebe und Fürsorge ihrer Mitmenschen erfahren, sondern mussten das Dorf verlassen. Ausserhalb des Dorfes wurden einige Hütten errichtet, in denen diese kranken Menschen bleiben konnten, bis sie sich besser fühlten. Viele von denen, die in diese Hütten kamen, waren verstört, als sie ins Dorf zurückkehrten.
Die Propheten taten noch mehr. Sie brachten eine grosse Kiste in die Mitte des Dorfes und öffneten sie. Darin waren kleine Flüssigkeiten zu sehen, die säuberlich abgepackt waren. Diese Flüssigkeiten müssten sie nun trinken, so sagten die Propheten, und die Flüssigkeit würde bewirken, dass die Menschen nicht mehr so krank wurden. Das Ende, vor dem sie gewarnt hatten, könnte so abgewendet werden, so sagten sie weiter.
Der eine Mensch, von dem ich zu Beginn erzählte, sah, wie die Menschen die Flüssigkeit tranken. Er sah, wie viele von ihnen trotzdem krank wurden. Er sah auch, wie einige Menschen still in ihren Hütten verschwanden. Sie hatten die Flüssigkeit nicht getrunken.
Als die Propheten bemerkten, dass nicht alle die Flüssigkeit genommen hatten, sprachen sie zu den Menschen im Dorf. Sie zeigten auf die Kiste mit den Flüssigkeiten und sprachen: „Dies ist das Mittel, das wir euch gebracht haben, damit das schreckliche Ende nicht kommt, von dem wir euch erzählt haben. Aber einige von euch nehmen das Mittel nicht“.
Die Menschen im Dorf, die die Flüssigkeit getrunken hatten, wurden wütend. Sie fingen an, die Menschen, die die Flüssigkeit nicht getrunken hatten, aus ihren Häusern zu treiben. Es fielen viele harte Worte. Zum Schluss wurde beschlossen, dass die Menschen, die die Flüssigkeit nicht getrunken hatten, nicht mehr im Dorf bleiben sollten. Ihnen wurden Hütten am Rand des Dorfes zugewiesen. Niemand sprach mit ihnen.
Der eine Mensch, der das alles beobachtete, sah, dass die Propheten das Dorf nicht mehr verliessen. Sie sprachen jeden Tag auf dem Dorfplatz über das Ende, das kommen sollte, und über ihre Flüssigkeiten. Er wusste, dass das Vertrauen im Dorf zerstört war. Er wusste, dass die Welt, in der sie in Frieden und Liebe und Fürsorge gelebt hatten, nicht mehr da war.
An einem Tag, an dem die Propheten besonders laut gesprochen hatten, ging er alleine in den Wald hinaus. Auf einer Lichtung machte er sich ein Feuer. Als die Dämmerung einbrach und es Nacht wurde, holte er seine Trommel und sang einen Gesang. Es war ein Gesang des Übergangs, kein Gebet, aber ein Singen seiner Seele zu den Bäumen, zum Wind und zu den Sternen. Es war ein Gesang ohne Ziel, ein Erzählen in Tönen.
Nach einiger Zeit sah er, wie Menschen aus dem Dorf zum Feuer kamen. Sie kamen schweigend. Es waren solche dabei, die den Propheten gefolgt waren, und solche, die aus dem Dorf getrieben worden waren, weil sie den Propheten nicht folgten. Alle setzten sie sich ums Feuer und lauschten den Trommelklängen und dem Gesang des Menschen.
Als der Gesang und das Trommeln verstummten, sprach keiner der Menschen ein Wort. Das Feuer knisterte leise, und die Nacht näherte sich dem dunkelsten Moment, kurz bevor der Tag anbricht. Das Schweigen wurde warm im Schein des Feuers. Die Flammen und der Rauch trugen die Gedanken der Menschen in den schwarzen Himmel hinein.
„Wir müssen die Propheten aus dem Dorf vertreiben“, sagte plötzlich jemand leise.
Keiner der Menschen sprach ein Wort. Aber alle erhoben sich, und das erste Morgenrot war am Himmel zu erahnen. Schweigend gingen sie ins Dorf zurück. Sie wussten, es war ein langer Weg, der vor ihnen lag. Aber es schien ihnen, als hätten sie im Schein des Feuers einen geheimen Pakt geschlossen. Einen Pakt, dass solches nie wieder geschehen sollte. Einen Pakt, dass die Liebe und die Fürsorge wieder das Dorf beseelen sollten. Und das machte sie stark und froh.