Trunken

Nach einer Sitzung ging ich mit einer Freundin etwas essen. Es ist der letzte Abend vor der weitgehenden Aufhebung der Covid-Restriktionen in der Schweiz. Einerseits bin ich enorm erleichtert, anderseits will ein gewisses merkwürdiges Gefühl nicht verschwinden - wie ich es gestern schon beschrieben habe.

 

Der weitere Weg wird sich weisen, wie immer. Eine Freundin schrieb mir vorhin: "Das Gefühl ist unbeschreiblich, die Worte fehlen mir dazu. Ist etwas gebrochen in mir, verbittert? Ich bin traurig und der neuen Situation gegenüber nicht im Vertrauen. So lass ich es mal stehen und beobachte mich und alles Weitere…. We will see….." 

 

Als ich zum Bahnhof kam, um nach Hause zu fahren, war da ein junger Mann von vielleicht 25 Jahren. Er hatte sich offensichtlich einen angetrunken und rief laut: "Ihr habt euch alle impfen lassen, und jetzt ist alles vorbei mit den Zertifikaten! Da habt ihr es! Ich bin meiner Mutter dankbar, dass ich nie eine Impfung bekommen habe! Ihr lasst euch impfen und lasst Krankheiten in euch rein, die ihr sonst gar nicht hättet!" Er sagte es mit einem strahlenden und irgendwie friedlichen Gesicht. Ich musste laut lachen, als ich ihm zuhörte, und zwar aus Sympathie und Freude an der Komik dieser Situation. Ja, manchmal scheint der Alkohol halt doch Wahres aus den Menschen rauszulassen 😀

 

In all dem schwingt noch ein anderes Gefühl in mir mit: der Stolz, dass ich mir selber treu geblieben bin. Ich habe es bis hierhin geschafft, zusammen mit vielen Freundinnen und Freunden. Ich habe neue Freund:innen gefunden in dieser Zeit. Bekanntschaften haben sich intensiviert. Eine Tiefe und eine Solidarität ist entstanden, die sonst nie entstanden wäre. Das ist ein Schatz, der unbezahlbar ist, der alle Widrigkeiten wert war.

 

Der Weg ist noch nicht vorbei, fürchte ich. Aber ein Abschnitt ist vorbei, und daran will ich mich heute halten.